Projekt Natter - das etwas andere Modell in 1:2
    •  Fotos vom Bau des Nattermodells  •
 
Der erste bemannte Raketenstart der Welt fand nicht in Baikonur statt, sondern in Stetten am Kalten Markt, auf der Schwäbischen Alb. Nicht Juri Gagarin war der Pilot, und man schrieb nicht das Jahr 1962. Am 1. März 1945 hob Leutnant Lothar Sieber an Bord einer Abfangrakete vom Typ Natter vom Startgestell ab und schoss senkrecht in den Himmel. Wenige Augenblicke später fand Sieber den Tod. Das Geschoss in dem er festgeschnallt war, schlug mit Höchstgeschwindigkeit und laufenden Motoren unweit der Startlafette in den Boden.
 
Doch das Fluggerät, die in Waldsee konstruierte Natter, hat Luftfahrtgeschichte geschrieben. Aus Anlass einer Ausstellung über Flugpioniere in Oberschwaben, bauten im Jahre 2005 die Modellflieger des SSC Bad Waldsee-Reute ein Modell der Natter im Maßstab 1:2 nach.
 

Die Idee zum Raketenflug hatte Erich Bachem, der im oberschwäbischen Waldsee eine Zulieferfirma für Flugzeugwerke betrieb, ein begeisterter Segelflieger war und zuvor beim Flugzeugbauer Fieseler gearbeitet hatte. Im Herbst 1944 hatte er den Auftrag erhalten, eine "Wunderwaffe" für die Bomberabwehr zu entwickeln. Schon nach wenigen Monaten Entwicklungs- und Bauzeit wurde die Natter im Dezember 1944 bei ersten Schleppversuchen getestet. Ende Dezember gelang dann der erste unbemannte Senkrechtstart, und am 1. März 1945 sollte der 23-jährige Lothar Sieber auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Heuberg den ersten bemannten Senkrechtstart erproben. Für Erich Bachem kam der erste bemannte Start zu früh, aber angesichts der Krieglage und unter dem Druck der Auftraggeber wurde er dann doch durchgeführt. Leider verlief dieser erste bemannte Start tödlich. Weitere bemannte Flugversuche wurden nicht mehr unternommen. Erich Bachem gründete nach dem 2. Weltkrieg die Wohnwagenbaufirma Eriba (Erich Bachem), heute weltweit bekannt unter dem Namen Hymer Wohnmobile.

Bei der Sonderaustellung "Flugpioniere aus Oberschwaben", die vom 17. März bis 11. September 2005 in Bad Waldsee stattfand, sollte auch ein Modell der Natter ausgestellt werden. Die Museumsleitung trat deshalb mit der Bitte an den SSC Bad Waldsee-Reute heran, ob man sich vorstellen könnte, ein Modell der Natter im Maßstab 1:2 zu bauen. Von der Vereinsführung wurde spontan eine Zusage erteilt.

Jetzt waren die Modellflieger und -bauer des SSC Bad Waldsee-Reute gefordert. Wie beim Bau des Originals stand man unter gehörigem Zeitdruck. Nur zwei Monate standen den Modellbauern bis zur Ausstellungseröffnung zur Verfügung. Zunächst galt es, die notwendige Literatur und Pläne zu besorgen. Ziel war, das Modell so originalgetreu wie nur möglich zu bauen. Da das Modell als reines Standmodell, also nicht flugfähig, gebaut wurde, spielte das Gewicht eine untergeordnete Rolle. Aber wir waren uns auch im Klaren: zu schwer sollte es auch nicht werden, denn es sollte ja noch transportiert werden können.

Wir hatten zwar einen Originalplan, aber nur in DIN A4. Dieser musste nun entsprechend vergrößert werden. Da bestimmte Details, wie die Befestigung der Zusatzraketen aus der kleine Vorlage nicht richtig vergrößert werden konnten, mussten diese maßstabsgetreu nachgezeichnet werden. Jetzt konnten Überlegungen angestellt werden, wie groß die einzelnen Baugruppen werden sollten. Wir kamen zu dem Schluss, den Rumpf an einem Stück und die Flächen und Leitwerke steckbar und somit demontierbar auszuführen. Da beim Bau des Rumpfes mit Spanten (wie beim Original) eine Helling erforderlich gewesen wäre, wählten wir eine andere Variante. Seiten- und Draufsicht wurden auf zwei große Holzplatten übertragen, ausgesägt und mittig miteinander verbunden. So hatte der Rumpf schon mal seine Grundform. Die einzelnen Spanten wurden nun gevierteilt und eingepasst. Dies war dann doch sehr arbeitsintensiv, da der Rumpf ellipsenförmig ist und sich nach hinten und vorne verjüngt. Auch der Bau der abnehmbaren Kabine erwies sich als nicht ganz einfach.

Nachdem die Spanten und Rippen eingepasst waren, wurde das gesamte Modell mit Flugzeugsperrholz beplankt. Wie früher beim Bau von Holzflugzeugen, wurde die Beplankung mit Nagelleisten aufgebracht. Anschließend wurde alles verspachtelt und verschliffen. Als Baumaterial wurde wie beim Original ausschließlich Holz verwendet. Für die Spanten und Rippen nahmen wir Multiplex-Platten und Pappelsperrholz, beplankt wurde das gesamte Modell mit Flugzeugsperrholz 1,2 mm. Die Nasenleisten wurden aus Fichtenholz gehobelt und geschliffen, für die Randbögen wurde Balsaholz verwendet. Obwohl es sich um ein Standmodell handelt, wurden die Ruder beweglich mit Hohlkehlen ausgeführt. Befestigt haben wir sie mit Kugelschnäppern.

Für die vier Zusatzraketen wurden eigens Metallrohre angefertigt. Ein Ende wurde mit einem Klöppelboden (aus der Flaschnerei) verschweißt, am anderen Ende wurden die gedrechselten, schwenkbaren Düsen angebracht. Auch die Befestigung der Raketen am Rumpf wurde originalgetreu ausgeführt. Zum Lackieren wurde die Natter in eine befreundete Schreinerei transportiert. Und jetzt kommt das; was unsre Natter so einmalig macht: lackiert wurde sie mit Kirol-Fliegerlack wie in den Jahren 1944/45. Geliefert wurde der Lack von einer Münchner Spezialfirma. Nach der Lackierung ging es wieder zurück in die Flugplatzwerkstatt. Jetzt musste noch die Beschriftung angebracht werden. Unser Nachbau trägt die Nummer 52.

Pünktlich auf den Tag wurde unser Projekt fertig. Die Fertigstellung wurde gebührend gefeiert, und am nächsten Tag konnte die Natter im Heimatmuseum in Bad Waldsee abgeliefert werden. Dort war sie eines der Highlights in der Sonderausstellung "Flugpioniere aus Oberschaben". Rund 700 Arbeitsstunden haben die Modellflieger des SSC Bad Waldsee-Reute in das Projekt Natter investiert. Und es hat sich gelohnt. Selbst Horst Lommel, der Experte für die Geschichte der Natter, bescheinigte einen sehr gelungenen Nachbau. Mit ihrer Lackierung ist sie einmalig in Deutschland. Inzwischen hat unsere Natter mehrfach ihren Standort gewechselt. Nach der "Militärgeschichtlichen Sammlung" in Stetten am Kalten Markt ist sie derzeit im Deutschen Technikmuseum Berlin ausgestellt.

Bericht: Peter Halder

Erich Bachem Natterskizze Erich Bachems Lothar Sieber Lothar Sieber
beim Einstieg in die Natter


Augenzeugenbericht zum Flug am 1. März 1945


Flugkapitän Fiedler, seinerzeit Entwicklungsleiter des Projektes "Natter":

"Während am Startplatz die Monteure die letzten Arbeiten durchführten, jedes Teil der Maschine von Spezialisten nachgeprüft wurde, und bevor Sieber in die Maschine kletterte und in der ungewohnten Lage - Beine nach oben - angeschnallt wurde, sprach ich noch einmal mit ihm über den Startverlauf: 'Wenn die Maschine nach dem Start versucht, auf den Rücken zu gehen,' sagte ich zu ihm, 'drehen Sie eine halbe Rolle, dann sind Sie im steilen Steigflug und können sich besser orientieren.' Noch ein Händedruck und Sieber nahm seine Position ein.

Nach 10 Sekunden bis X-Zeit, die Uhr läuft ... 10 Sekunden des Wartens, Ewigkeiten für den einsamen Mann im Pilotensitz. Dann der Start. Rauschend läuft das Walter-Düsentriebwerk an, geht auf Vollschub und in die Dampfschwaden, die fast den ganzen Flugkörper einhüllen, schlagen jetzt die zuckenden Blitze der vier Pulver-Startraketen. Für Sieber muß dieser Augenblick, als die Maschine aus ihrer Blockierung tritt, eine Erlösung sein.

Ich war kurz vor dem Start ein Stück querfeldein gegangen, um die Flugbewegungen besser beobachten zu können. Planmäßig stieg die Natter fast senkrecht hoch ... Wir starrten ihr nach. Leicht beginnt das Projektil seine Bahn nach hinten zu neigen. Meine Hände bewegen sich unwillkürlich wie am Steuerknüppel nach rechts, als könnte ich die Maschine dort oben beeinflussen. Da, ... ja, Sieber reagiert richtig, dreht eine halbe Rolle, steigt im steilen Steigflug immer schneller werdend durch die Nebelfetzen. In Sekunden bildet sich ein Wolkenschleier, welch unerwartete, riesige Erschwerung seines Fluges!

'Die Haube ist weggeflogen,' sagt da einer in dem Häuflein Menschen, die gebannt in die Wolkenfetzen starren, aus denen das Rumoren des Rekatentriebwerks tönt. 30 Sekunden, 40 ..., nach 55 Sekunden sah ich in der Ferne einen dunklen Punkt nach unten stürzen. War es ein Vogel? Wir hofften und warteten lange. Schließlich gingen wir in Richtung des beobachteten Sturzes und fanden nach einigen Kilometern eine tiefen Krater ... Da über dem sich schließenden Hochnebel in großer Höhe eine geschlossene Wolkendeck lag, könnte es sein, daß Sieber die Orientierung verlor und statt nach oben nach unten durchstieß. Sicher haben sich hinter der festen Windschutzscheibe, nun ohne Haubendach, störende Luftwirbel gebildet. Sollte Sieber aus diesen Gründen zu spät gedrosselt haben, wäre die Maschine im Schallbereich unkontrollierbar geworden. Niemand weiß es."

 


Augenzeugenbericht zum Flug am 1. März 1945


Erich Bachem, Konstrukteur der Natter, äußerte sich 1953 zu dem Ereignis:

"Die 'Natter' stieg zunächst senkrecht auf etwa 500 Meter. Dann flog die Haube des Führerraumes ab, die Maschine ging in den Rücken und entschwand in schnellstem Horizontalflug. Nach etwa einer Minute explodierte sie. Das Gerät war völlig zerstört, der Pilot war tot. Als Ursache des Unglücks wurde einwandfrei das Wegfliegen der Haube festgestellt. An dieser befand sich die Kopfstütze. Der Kopf des Piloten wurde schlagartig mit 3 g etwa 25 Zentimeter nach hinten gerissen. Bewußtlosigkeit, vielleicht auch schon Genickbruch mußten die Folge gewesen sein. Wahrscheinlich war das hintere Haubenscharnier beim Transport verbogen oder beschädigt worden."
 

 
Linktipps zum Thema Natter


www.kheichhorn.de  •  www.hechingen4you.de Die Natter  • 
Google: Bachem BA 349  •  wikipedia: Bachem BA 349